Hoher Besuch aus Augsburg
Predigt von Bischof Bertram Meier anlässlich der Messe zum Schweizer Nationalfeiertag auf der Alpe Chermignon
"In Gottes Namen Amen"
Lieber Herr Pfarrer Noti, liebe Schwestern und Brüder, ich danke Ihnen, Herr Pfarrer Noti, herzlich für die Einladung, heute den Gottesdienst mit Ihrer Gemeinde feiern zu dürfen, an Ihrem höchsten staatlichen Feiertag. Es ist für mich eine Ehre und zugleich ein brüderlicher Dienst, den ich gerne übernommen habe. Ich bin sehr gerne Gast in dieser grandiosen Landschaft, die den Menschen, die hier seit Jahrhunderten leben, sicher viel geschenkt, aber nicht wenig abverlangt hat. Eine Landschaft, in der man sich Gott näher fühlt und sich zugleich der eigenen Grenzen sehr bewusst wird. Sie feiern heute den Tag, an dem die drei Urkantone nach Erfahrungen von Krieg und Leid beschlossen haben, sich gegenseitig Unterstützung zuzusagen und vor allem: den Frieden zu gewährleisten. In der aktuellen Situation in Europa wissen wir dies neu zu schätzen. Denn zum ersten Mal seit drei Jahrzehnten ist der Krieg wieder sehr nahe gerückt.
Wie sehr sich Menschen, die unter schlimmen Verhältnissen leben, nach Veränderung sehnen – davon sprechen auch die beiden Lesungstexte, die wir soeben gehört haben. Auf den ersten Blick scheinen sie nicht zusammenzupassen: Da wünscht sich auf der einen Seite ein Prophet namens Hananja die Befreiung vom Joch der Unterdrückung und ist überzeugt, dass es Gottes Wille ist, das Volk von der Knechtschaft zu erlösen. Er wird aber von Jeremia, demjenigen unter den alttestamentlichen Propheten, der am meisten mit seinem Volk mitgelitten hat, erkennbar ausgebremst. Der ahnt nämlich intuitiv: Noch ist es nicht soweit. Hananja stellt mit seiner Botschaft Gott unter Zugzwang, er führt ein Täuschungsmanöver durch - und das bekommt weder ihm noch dem Volk. Lapidar kommentiert Jeremia: „An der Erfüllung des prophetischen Wortes erkennt man den Propheten, den der Herr wirklich gesandt hat.“ (Jer 28,9).
Ein Wort, das auch heute gilt, wo vielfach der Bevölkerung nach dem Munde geredet und Versprechungen gemacht werden, die nicht realistisch und umsetzbar sind. Die Quintessenz dieser alttestamentlichen Episode lautet: Nicht abheben und Luftschlösser bauen oder gar Fake News verbreiten, sondern auf dem Boden bleiben, sich für Verständigung einsetzen und die Hoffnung nicht aufgeben.
Und wie zur Ermutigung wird uns im Matthäusevangelium die Speisung der Fünftausend in Erinnerung gerufen. Auch hier eine ähnliche Ausgangssituation: Das Volk Israel stöhnt unter der Besatzung der Römer und ihrer Willkürherrschaft. Menschen sind bedürftig, sie haben Hunger und Durst, leiblichen Hunger, aber sicher auch Hunger nach einer positiven Zukunftsperspektive, nach Anerkennung und Zuspruch, nach Wegweisung – ja, Transzendenz. Und Jesus weiß, dass das eine ohne das andere nicht gestillt werden kann. „Zuerst kommt das Fressen und dann die Moral“ äußerte frech, aber treffend der Dichter Bert Brecht, gebürtig aus meiner Bischofsstadt Augsburg.
Doch hier geschieht das Wunder: Aus wenigem wird so viel, dass alle sattwerden und sogar noch übrigbleibt. Warum hat es denn jetzt „funktioniert“? Was ist um das Jahr 30, während der Regierung des römischen Kaisers Tiberius, anders als zur Zeit des Tyrannen Nebukadnezzar?
Im Evangelium werden namenlose Menschen vorgestellt, beim Evangelist Johannes ist es sogar ausdrücklich ein kleiner Junge (Joh 6,9), der Jesus freiwillig alles gibt, was er hat: fünf Brote und zwei Fische. Dieses rückhaltlose Vertrauen kann Jesus, kann Gott umwandeln in ein Wunder, in die Sättigung von Tausenden. Mehr braucht es nicht und doch fällt es uns Menschen oft so schwer, auch nur ein Quäntchen Hoffnung in das Gebet zu setzen, Gott unser Schicksal voll und ganz anzuvertrauen und mehr von ihm zu erwarten als von uns selbst.
„Die Versuchung erklärt das Zeitliche zum Ewigen, das Offene zum Fertigen. Den Ausschnitt sieht sie als Ganzes“, gibt der spirituelle Autor Thomas Schwaiger zu bedenken. Dieser Versuchung ist der Prophet Hananja erlegen und bis heute erliegen ihr Unzählige. Sie können es nicht erwarten, bis sich ein „Zeitfenster“ für Veränderung auftut. Sie wollen jetzt erzwingen, was sich nicht von allein einstellt, es soll gewaltsam herbeigeführt werden. Geht es uns nicht oft ähnlich? Gebeutelt von der Pandemie und seit bald einem halben Jahr von den globalen Folgen des Ukrainekrieges betroffen, ohne dass wir sehr viel mehr tun können als die Not der Flüchtlinge zu lindern, Sanktionen gegen den Aggressor zu verhängen und den Menschen in Notwehr Waffen zu liefern. Eröffnen wir aber auch einen Raum für das Eingreifen Gottes in unsere begrenzte Wirklichkeit? Wie offen sind wir denn wirklich für Wunder, die kleinen Wunder des Alltags und die großen der Weltgeschichte?
Wenn Sie, liebe Gemeinde, heute Ihren Nationalfeiertag begehen und sich an die Anfänge der Eidgenossenschaft erinnern, dann überwiegt wohl vor allem die Dankbarkeit - dass das, was vor bald 800 Jahren (1291) im Bundesbrief besiegelt worden ist, durch die Zeitläufte bis heute überdauert hat; dass es immer wieder modifiziert, aber doch in der Substanz erhalten geblieben ist. Ihre Ahnen, Männer wie Frauen, stellten sich dabei bewusst unter den Schutz Gottes. Denn der Bundesbrief beginnt mit den Worten: In nomine Domini Amen. Damit ist alles gesagt, was auch heute genügt: Ich wünsche Ihnen, dass Sie „im Namen des Herrn“ aufrichtig und kreativ fortführen, was diesem Land durch die Jahrhunderte den Frieden erhalten hat: Bleiben wir dankbar für echte Sternstunden der Menschheit wie die Gründung der Eidgenossenschaft, den Fall der Berliner Mauer und die samtene Revolution von 1989 und erliegen wir nicht der Versuchung, „das Zeitliche zum Ewigen“ zu erklären und zum Maß aller Dinge zu machen. Halten wir den Himmel offen. Machen wir auch unser eigenes Leben durchlässig für das Wirken Gottes, wie die großzügigen Menschen im Evangelium: Sie schenken freimütig und ohne Hintergedanken ihr Weniges, um für unzählige andere zum Segen zu werden. Amen.